Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 26.02.2020 über die Unrechtmäßigkeit des §217 StGB/geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung

Offener Brief von Marion Steinmeier, Pastorin

Ist das nicht eigentlich ein guter Tag, wenn das Bundesverfassungsgericht, also unsere höchste richterliche Instanz, uns in unserer Autonomie und Würde am Lebensende ausdrücklich stärkt?

Unumwunden: Ja! Allerdings ist es dann umso unbegreiflicher, wenn das Gericht unter seinem Vorsitzenden Richter Andreas Voßkuhle ausführend zu der Entscheidung gelangt, dass die geschäftsmäßige Förderung von Selbsttötung, die in Deutschland bis dato verboten war, nunmehr gestattet sein soll. Verwundert reibt man sich die Augen wenn man liest, dass die Richter, die lange für die Entscheidung gegen das 2015 erlassene Gesetz gebraucht haben, die Gefahren, die von diesem ausgehen, klar und deutlich benennen: Hierzu zählt, dass die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe zu einer gesellschaftlichen Normalisierung der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne. Die Richter haben zwar zur Kenntnis genommen, dass dies auch vor dem Hintergrund von Kostendruck und Versorgungslücken um Pflege- und Gesundheitssystem eine reelle Gefahr ist, ebenso wie die Angst, Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen. Sie kommen dennoch zu dem Entschluss, dass genau diese Möglichkeit nunmehr aber jedem Menschen – ausdrücklich auch solchen, die nicht unter schwerer Krankheit leiden – in jeder Phase des Lebens eingeräumt werden muss.

Was könnte man nun nicht alles heranziehen, angefangen in den schwärzesten Zeiten unserer deutschen Geschichte vor 1945 und ihren furchtbaren Auswüchsen der Entscheidung über „unwertes Leben“ bis hin zu den allein durch Versorgunglücken entstehenden Autonomieverlusten, die tagtäglich in Krankenhäusern, Pflegeheimen und den ambulanten Versorgungsstrukturen unserer Tage vor sich gehen, um die groteske Fehlentwicklung, die diesem Urteils zugrunde liegt, zu untermauern.  Und mir ist wohl bewusst, welche Provokation allein in der Benennung dieser beiden Pole ruht. Dennoch sage ich: in diese ganze Bandbreite hinein gehört die nunmehr erlaubte geschäftsmäßig förderbare Selbsttötung– und sie gehört aus tiefstem Herzen abgelehnt!

Warum? Die Tötung eines Menschen ist der schlechthinnige point-of-no-return. Bevor es scheinbar gar keinen anderen Ausweg mehr zu geben scheint, als Leben zu beenden, müssen alle Möglichkeiten des Weiterlebens unter den Bedingungen von Würde und Autonomie ausgeschöpft worden sein. Und das sind sie nicht. Noch lange nicht! Und die Kenntnis über solche Möglichkeiten sind sogar 12 Jahre nach entsprechenden gesetzlichen Regelungen in Niedersachsen zur Palliativversorgung immer noch erschreckend gering.

 Seit 2009 arbeite ich in einem Palliativteam, das ostfrieslandweit Menschen am Lebensende versorgt. Mehr als 10 Jahre Erfahrung in überaus konkreten lebensendlichen Situationen. Aktive Todeswunsch-Vorstellungen sind in dieser Zeit nicht sehr oft an mich oder meine Kolleginnen herangetragen worden und wenn, dann waren sie Ausdruck einer tiefen Verzweiflung, in der der selbst herbeigeführte Tod zumindest vorübergehend besser erschien als eine weitere Minute Lebens. Das ist tragisch. Sehr oft erleben wir aber, dass mit den Mitteln und Möglichkeiten der Palliativversorgung diese Verzweiflung, z.B. weil sie auf zunächst scheinbar übermächtiger Symptomlast beruht, gelindert werden konnte. Über die Möglichkeiten VOR dem Suizid wird noch immer viel zu wenig geredet. Noch immer sind Pflegende und Ärzte nicht richtig ausgebildet, noch immer vertreten Pflegende und Ärzte (die ironischerweise jetzt berechtigt sein sollen, den Suizid straffrei zu begleiten) ablehnende unwissende Haltungen bezüglich der Palliativversorgung, noch immer wird Sterbenden eine Versorgung auch seitens der Kostenträger vorenthalten, die die Verzweiflung zum Tode sicher abfedern, wenn nicht aus der Welt schaffen könnte.

Und obwohl diese Missstände nicht endlich tatkräftig behoben werden, schaffen wir unter der Voraussetzung eines katastrophal falschen Autonomiebegriffs die Möglichkeit zur straffreien Tötungsassistenz. Kurz gesagt, die in der komplex gewordenen Situation am Lebensende überforderten Helfer werden nicht etwa befähigt und unterstützt, Menschenwürde zu verteidigen, sondern straffrei gestellt für die Möglichkeit, Menschenleben zu beenden. Das ist ein schwarzer Tag für die lobbyschwächste Gruppe der Todkranken und Sterbenden, auf die der Druck nun wahrscheinlich noch mehr steigt. Heute reicht man ihnen den Schierlingsbescher mit den zynischen Worten: Das wolltest Du doch, selbstbestimmt sterben, oder? Ich werde für mich persönlich alles daran setzen, im Rahmen meiner täglichen Arbeit mit Menschen am Lebensende, das höchste Gut des unwiederbringlichen Lebens zu schützen und zu verteidigen. Und ich bin froh, auf diesem Weg, viele an meiner Seite zu wissen.